WM-Angeber
Jetzt, wo keiner mehr über die WM schreibt, tu ich's. Denn große Ereignisse werfen nicht nur Schatten voraus, sondern ziehen auch welche nach sich. Z.B. den, dass wir, meine Familie und ich, seit unserem letzten WM-Spiel als ausgewiesene Fußballfamilie mit echten Kompetenzen gelten. Zum ersten Mal. Denn bisher habe ich nicht viel dagegen getan, als Fußballmuffel zu gelten. Für mich war Fußball eher interessant als Nachfolge des Mythos vom alten Griechen Atlas, der in der Antike die Welt als Kugel mit sich rumtrug, während das im Fußball heutzutage 22 Männer machen, was damals einer tat. Seit dieser WM aber sind wir in der Familie Fachleute, Semiprofis. Als Zuschauer natürlich nur, aber immerhin. Zugegeben: Nur Göttinger haben diese Meinung von uns und wir haben sie Friederike zu danken. Denn die saß in einem Hörsaal vor einer Großleinwand, die etwas grösser als die vor dem Uelzener Rathaus war (die außerdem zu niedrig aufgestellt war, so dass nur Uelzener ab 1,85 m aufwärts leidlich sehen konnten, was da gespielt wurde). Die kleinen Uelzener (wie ich) wichen in Gaststätten aus, in denen der Fernseher hoch genug hing. Friederike hingegen saß da in Göttingen mit ihren Mitstudenten und den Professoren und harrte der Dinge, die sie von Jens, ihrem Freund, und seinen Kumpanen aus dem Jelzene Komma, dem h6 und sonstwo her kannte; freudige Gespanntheit, Nervosität, steigende Erregung, Stoßgebete, enttäuschte Rufe und Jauchzer - je nachdem. Doch Friederike saß eben nicht mit Jens und Co. in Uelzen, sondern im Hörsaal in Göttingen – und da wurde gesessen. Gesessen und geguckt. Akademische Zurückhaltung pur. Da, angesichts der gebildeten Lethargie, da packte es Friederike und sie packte aus, was sie aufgeschnappt hatte von Freund Jens, dem Fußballfan. Halt den Ball flach!" rief sie ein erstes Mal und zwar laut, so dass einige nach hinten guckten zu ihr statt nach vorne zur WM. Und sie lachten. Gleich danach fiel ihr ein, dass jetzt passen könnte, was sie oft gehört hatte: „Das Runde muss in das Eckige, Leute!" Diesmal lachten schon viele und es machte sich Unruhe breit. „Es gibt nur einen Rudi Völler", sang Friederike angesichts ihres Erfolges und hatte noch mehr Erfolg: Der Saal ging mit. Schließlich saß sie mit Musikwissenschaftlern zusammen, die singen können mussten, „Kein Klein-Klein-Dahinten!" kritisierte sie und „spielt weiter von außen!" Als Kahn den ersten Ball der Brasilianer in sein Tor ließ - da trauerte sie laut „Unser Oli“. Nach dem Spiel wurde Friederike bewundert. Von wegen „Du hast ja richtige Ahnung!“ und sie verstieg sich dazu, von ihrer langen Beziehung zum Fußball zu reden, was auf mich und Christine zurückfiel, nicht auf Jens. Insofern sind wir alle Angeber. WM-Angeber.
9. Juli 2002